Mobilität ist ein Genderthema. Wem das bereits bewusst ist, die*der wird aus diesem Blog nicht unbedingt neue Erkenntnisse ziehen – aber vielleicht etwas Lesevergnügen. Wen diese Aussage triggert, sollte auf jeden Fall weiterlesen, denn zu Mobilität als Genderthema gibt es Fakten, die jede*r gehört haben sollte.

Die Mobilität von Frauen folgt anderen Mustern als die von Männern. Sie legen nicht zwangsläufig längere Wege zurück, aber vielfältigere. Frauen bewegen sich auf verzweigteren Pfaden durch das Alltagsleben als Männer – unabhängig vom genutzten Verkehrsmittel. Das hängt vor allem mit den Unterschieden in der Erwerbs- und Carearbeit zwischen Frauen und Männern zusammen. Ein typischer deutscher Mann ist in Vollzeit beschäftigt. Er fährt – meistens mit dem Auto – morgens zur Arbeit und am Abend zurück (die Corona-Pandemie könnte an diesem Verhalten etwas ändern, aber das ist hier nicht das Thema). Freizeitaktivitäten, alltägliche Besorgungen oder Unternehmungen mit der Familie finden für den Durchschnittsmann typischerweise nach der Arbeit oder am Wochenende statt. Die typischen Wege eines Mannes sind zweckorientiert: vom Wohnort zur Arbeit und zurück, vom Wohnort zum Sport und zurück, am Samstag vom Wohnort zum Wocheneinkauf…

Care-Arbeit und Mobilität von Frauen

Und Frauen? Es ist eine Tatsache, dass Frauen den größten Teil der unbezahlten Care-Arbeit übernehmen. Das Bundesfamilienministerium gibt an, dass Frauen täglich (!) durchschnittlich vier Stunden und 13 Minuten unbezahlte Care-Arbeit ausüben, 52% mehr als Männer. Dieser „Gender Care Gap“ spiegelt sich in der Teilnahme am wirtschaftlichen Leben wider: Wenn in Familien ein Kind unter 6 Jahren lebt und die Eltern arbeiten, sind 72,6% der Frauen in Teilzeit beschäftigt, aber nur 6,9% der Männer. Bei älteren Kindern sinkt der Anteil der Väter in Teilzeit sogar noch, es sind dann nur noch 5,2% (Statistisches Bundesamt). Und damit sind nur erwerbstätige Eltern berücksichtigt. Ein signifikanter Teil der Frauen geht keiner Beschäftigung nach, wenn Kinder unter 12 Jahren im Haushalt leben (Eurostat, 2019).

Bei den Vätern mit Kindern unter 12 sind etwa 92% erwerbstätig. Es sind also die Frauen, die Kinder zur Kita oder zur Schule bringen, und sie von dort auch wieder abholen – der vollzeitbeschäftigte Mann ist zur Schließzeit deutscher Durchschnittsschulen schließlich noch bei der Arbeit. Und in Deutschland sind wir von einer flächendeckenden Versorgung mit Ganztagsschulen oder Nachmittagsbetreuung noch weit entfernt. Frauen arbeiten also in Teilzeit, während Kinder in der Kita oder Schule sind, hetzen dann vom Arbeitsplatz zur Kita und danach zur Schule, um das Geschwisterkind abzuholen, und gehen auf dem Heimweg noch beim Supermarkt oder Bäcker vorbei.

Am Nachmittag geht es dann wieder los, die Kinder sind mit Freunden verabredet, wollen zum Sport, zum Musikunterricht oder zur Pfadfindergruppe. Und da unsere Städte und Straßen alles andere als kindgerecht sind, bringen Mütter ihre Kinder zu diesen Aktivitäten. (Oft mit dem Auto, da sichere Fuß- oder Fahrradinfrastruktur entweder nicht vorhanden oder zugeparkt ist. Aber auch das ist ein anderes Thema.) Frauen sind meist diejenigen, die sich auf den Weg machen, um Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen oder Termine beim Logopäden mit Kindern wahrzunehmen. Allen, die jetzt sagen: „Aber bei uns nicht! Ich als Vater bin immer bei den Vorsorgeuntersuchungen dabei!“ sei ans Herz gelegt, beim nächsten Kinderarzttermin, beim Elternabend in der Kita oder Elternsprechtag in der Schule die Anzahl der anwesenden Mütter und Väter zu zählen.

Viele Wege von Frauen sind Wege für Kinder oder ältere Angehörige

Es ist lobenswert und wichtig, wenn Väter mehr Care-Arbeit übernehmen, und sicherlich eine bereichernde Erfahrung für jeden. Trotzdem sind gesellschaftlich betrachtet Frauen diejenigen, die mehr Zeit und Wege für die Familie auf sich nehmen. Kinder sind oft der Grund für unbezahlte Care-Arbeit, aber auch Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen dürfen hierbei nicht vergessen werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Angehöriger zu Hause oder in einer Einrichtung gepflegt wird, denn sowohl Arzttermine und Besorgungen für den pflegebedürftigen Mensch als auch Besuche in einer Einrichtung finden nicht nach Feierabend ab. Es sind zum Großteil Frauen, die sich tagsüber darum kümmern und die Wege zu Ärzten, Optikern, Akustikern, Apotheken, Zahntechnikern, und Seniorenwohnheimen zurücklegen.

Schul- und Kitawege begleiten, mit eigenen beruflichen Arbeitszeiten und Terminen koordinieren, Freizeitaktivitäten der Kinder managen und alltägliche Einkäufe erledigen. Diese Wege legen Frauen zurück, während Männer ihrer Vollzeitbeschäftigung nachgehen und damit im Wesentlichen den Weg zur Arbeitsstelle und nach Hause zurücklegen. Vielleicht kommen ab und zu noch Kundentermine oder Dienstreisen hinzu, allerdings sind auch diese Wege zweckorientiert: von der Arbeitsstätte zum Kunden/Lieferanten/Geschäftspartner und zurück.

Frauen bewegen sich auf ihren Wegen kreuz und quer durch ihre Stadt oder vielleicht sogar in benachbarte Orte. In den seltensten Fällen liegen Kindergarten, Schule, Supermarkt und Kinderarzt so, dass sie bequem auf dem Weg zur Arbeit zu erreichen sind. Für Frauen heißt dies in der Regel, sich zwischen verschiedenen Stadtteilen zu bewegen und dabei viele Wege miteinander zu verknüpfen.

Infrastruktur für männlich geprägte Mobilität

Seit Jahrzehnten ist die Verkehrsplanung in Deutschland nach dem Prinzip ausgerichtet, Wege von A nach B zu planen – also Infrastruktur für eine eher männlich geprägte Mobilität zur Verfügung zu stellen. Dabei soll man möglichst schnell vorwärts kommen, ohne störende Beeinträchtigungen. Am deutlichsten wird das in Deutschlands ausgedehntem Autobahnnetz: wer dort fährt, ist tendenziell nicht unterwegs zur Kita oder holt schnell noch ein Brot für das Abendessen. Innerhalb der Städte ist die Verkehrsplanung darauf ausgerichtet, den (Auto-)Verkehr über Hauptstraßen fließen zu lassen, die vom Zentrum als Arbeitsort für viele Menschen in die am Stadtrand liegenden Wohnorte führen. Auch das Angebot im ÖPNV folgt oft diesen Strukturen. Wer sich quer zu diesen Strukturen bewegen will, weil die Schule nicht im Zentrum liegt, der tägliche Lebensmittelbedarf im Nachbarstadtteil gedeckt wird und Sportverein, Großeltern und Kinderarzt über die ganze Stadt verteilt sind, findet wenig passende Strukturen vor.

Das hat Folgen: Umwege, weil direkte Verbindungen fehlen, vermehrtes Umsteigen für ÖPNV-Nutzerinnern, und kaum durchgehende Radwegverbindungen zwischen den Stadtteilen (fairerweise muss gesagt werden, dass es die auch sonst kaum gibt). Betroffen sind davon vor allem Frauen aufgrund ihrer unterschiedlichen Mobilitätsmuster im Vergleich zu Männern. Die Verkehrsplanung berücksichtigt weibliche Mobilität mit ihren Erfordernissen durch Care-Arbeit und Teilzeitbeschäftigung viel zu wenig. Hinzu kommt, dass Frauen gemeinsam mit ihren Kindern unterwegs sind, und dabei sicher und flexibel sein wollen. Wer nur auf das Auto als sicheres Verkehrsmittel in einer Stadt setzt, lässt Bedürfnisse von Familien nach Bewegung, Sicherheit im Straßenverkehr und Aufenthalt im Freien außer Acht. Ein gut getakteter ÖPNV, der Stadtteile verbindet, sichere und kindgerechte Radverkehrsinfrastruktur, ausreichend Platz für den Fußverkehr sind nicht nur Teil einer gendergerechten, sondern auch nachhaltigen und lebenswerten Stadtplanung.

Gendergerechte und nachhaltige Stadtplanung: wo gibt es die?

Eine gute Nachricht zum Schluss. Das Konzept der „15-Minuten-Stadt“ hat das Ziel, alle – also wirklich ALLE – Lebensbereiche innerhalb einer Stadt innerhalb von 15 Minuten erreichbar zu machen. Dies bedeutet, Arbeitsplätze, Lernorte, Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, Alte und Kranke, Einkaufen, Sport und Spiel, Ausgehen innerhalb einer Wegelänge von 15 Minuten anzusiedeln. Der Erfinder dieses Prinzips ist Carlos Moreno, und in Paris setzt die Bürgermeisterin Anne Hidalgo vieles in Bewegung, um Paris zu einer Stadt der 15 Minuten zu machen. Diese Abkehr von der klassischen Stadtplanung mit weitgehend getrennten Bereichen für Wohnen, Arbeiten, Einkaufen, Unterhaltung ist auch eine gute Nachricht für die gendergerechte Mobilität. In einer solchen Stadt können Frauen wie Männer ihre Wege mit dem Fahrrad, Lastenrad oder zu Fuß zurücklegen, ohne weite Wege zwischen verschiedenen Stadtteilen zurückzulegen. Und vielleicht bietet diese Stadt der Zukunft auch Anreize, die Care-Arbeit in Familien gerechter aufzuteilen.