Gedanken zum Weltkindertag 2021 und Kidical-Mass-Aktionswochenende
Morgens um 7:45 Uhr bietet sich vor allen Schulen in Deutschland das gleiche Bild: vor dem Schultor kriecht eine Schlange aus Autos Stück vor Stück voran. Eltern öffnen hektisch Kofferräume, um Schulranzen und Sporttaschen herauszuholen, derweil überholen andere Autos, um wirklich direkt vor dem Schuleingang halten und dem eigenen Nachwuchs den Weg so kurz wie nur möglich zu machen. Dazwischen wuseln Kinder zu Fuß und mit Fahrrädern um die wartenden Autos herum und suchen sich ihren Weg durch das Labyrinth aus sich öffnenden Türen und plötzlich beschleunigenden SUVs termingehetzter Eltern. Aus Schulbussen strömen Gruppen von Kindern, während von der Verzögerung durch den Bus genervte Eltern versuchen, sich mit dem eigenen Fahrzeug so schnell wie möglich vorbeizudrängeln. Abgaswolken schweben über der Szene, Hupen und das ein oder andere unfreundliche Wort sind zu hören. Willkommen zum Schulbeginn von Millionen Kindern in Deutschland jeden Morgen.
Noch nie gab es in Deutschland so viele Autos wie jetzt. 48,2 Millionen Autos waren 2020 zugelassen, was einer deutlichen Zunahme im Vergleich zu 2010 entspricht. (Statistisches Bundesamt). Das Erschreckende dabei: die Anzahl der Haushalte, die kein eigenes Auto besitzen, ist ungefähr gleich geblieben. Mehr Autos verteilen sich also auf ungefähr gleich viele Haushalte. Das heißt nichts anderes, als dass es mehr Zweit- und Drittautos gibt. Für Familien bedeutet das: hat Mama einen frühen Termin und kann die Kinder nicht auf dem Weg zur Arbeit in die Schule bringen, übernimmt das Papa mit dem Zweitauto. Wie praktisch!
Was sich auf den ersten Blick wie eine Erleichterung für Familien anhören mag, hat tiefergehende Auswirkungen – auf unsere Art zu leben, unsere Gesundheit, unsere Möglichkeiten, die Erderwärmung auf ein erträgliches Maß zu begrenzen. Kurz gesagt, auf unsere Gesellschaft als Ganzes. Was bedeutet es für die heranwachsende Generation (und die danach), wenn Kinder den Schulweg vor allem aus dem Autofenster kennen? Welches Signal senden Mütter und Väter, wenn sie ihre Kinder nicht nur zur Schule, sondern zu Freunden, zum Schwimmbad, zum Musikunterricht, zum Tanzen, zum Fußballspiel, zu den Großeltern, zum Zahnarzt mit dem Auto bringen?
Das gefährliche Draußen
Für Kinder hat die Selbstverständlichkeit des Autos weitere Dimensionen. Was Eltern ihren Kindern vermitteln, wenn sie für jeden denkbaren Weg das Auto nutzen: „Da draußen ist es gefährlich!“ – und tatsächlich tragen Eltern durch ihr Verhalten dazu bei, dass es für Kinder außerhalb des Autos gefährlich wird. Laut Statistisches Bundesamt waren in 2020 41% der verunglückten Kinder auf einem Fahrrad unterwegs. Dabei wird Radfahren oder zu Fuß gehen erst durch das Zusammentreffen mit dem motorisierten Verkehr gefährlich. Eine getrennte Infrastruktur für Autos einerseits und Fußgänger*innen und Radfahrende andererseits gibt es kaum. Kinder lernen: Fahrrad fahren ist gefährlich, nur im geschützten Raum des Autos sind wir sicher.
Die anderen stören
Aus dem Kindersitz betrachtet, findet die persönliche Interaktion mit anderen Menschen im Straßenverkehr kaum mehr statt. Im Inneren des Autos aber findet eine Kommunikation ÜBER andere statt. Termingehetzte Eltern am Steuer äußern sich selten wohlwollend über langsamere Verkehrsteilnehmende. Da wird der ältere Herr, der aufgrund seiner Hüftarthrose nicht über die Straße sprinten kann, „so ein A…, der über die Straße kriecht“. Und: „die (Scheiß)Radfahrer sollen auf dem Radweg fahren“ – selbst wenn der angebliche Radweg ein Gehweg ist, den Radfahrende nicht benutzen dürfen. Die Botschaft im Autoinnenraum: die anderen stören, gehören nicht auf die Straße. Die Straße ist aus der Sicht des Autoinneren kein öffentlicher Raum mehr, der allen gehört und von allen genutzt werden kann. Kinder im Auto lernen: die Straße ist für Leute mit Autos da.
Verkehrszeichen SUV
Kinder lernen durch das Vorbild ihrer Eltern. Was Kinder, die im Auto chauffiert werden, auch lernen: die Interaktion mit anderen Verkehrsteilnehmern und das Verhältnis zu ihnen wird durch Maschinen gesteuert, nämlich Autos und Ampeln. Die Maschine Ampel steuert, wer fahren darf und wer halten muss. Die Maschine Auto zeigt nicht nur, wenn ich abbiegen will (blinken), sondern ist auch selbst quasi ein Verkehrszeichen: wer das größere und stärker motorisierte Auto fährt, also in der tödlicheren Maschine sitzt, schafft sich seinen eigenen Raum. Andere Verkehrsteilnehmer weichen eher aus, bleiben eher stehen, selbst wenn sie Vorfahrt haben. Kinder lernen: der Stärkere gewinnt.
Stadt: Gebäude und Straßen, Straßen, Straßen
Autos fahren auf Straßen, so weit, so klar. Je schneller Autos dort fahren können, je breiter die Straße ist, desto besser für Autos. Fahrräder fahren auch auf Straßen, aber nicht nur. Es gibt in allen Städten und Dörfern Wege, wo Autos nicht fahren können (weil zu schmal) oder dürfen (etwa durch Grünanlagen). Solche autofreien Wege sind für Fußgänger*innen und Radfahrende angenehmer zu benutzen, auch weil die Umgebung oft als schöner wahrgenommen wird. Eine Altstadtgasse bietet ein ganz anderes Flair als eine vierspurige Durchgangsstraße, ein Radweg entlang des Flusses lässt sich mit mehr Erholung befahren als ein Radstreifen an einer Straße mit Tempo 50 und Lkw-Verkehr. Im Auto kommt Eltern und Kindern die Ortskenntnis für diese Wege abhanden. Sie benutzen hauptsächlich gut befahrbare Straßen – es sei denn, die Familie fährt (mit dem Auto natürlich) zu einer Grünanlage, um dort spazieren zu gehen. Wo Menschen zu Fuß gehen wollen, dort fahren sie mit dem Auto hin. Auf diese Weise kommt das Bewusstsein dafür abhanden, dass zu der eigenen Stadt ein Raum abseits der Auto-Straßen existiert, auf denen sich Menschen bewegen können. Kinder lernen: Verkehrswege in der Stadt sind Straßen.
Generation Elterntaxi
Kinder aus Elterntaxi-Familien geht eine wichtige Fähigkeit verloren. Sie haben nicht gelernt, sich selbst im Verkehr zu bewegen. Mit dem Wissen im Hinterkopf, dass die Straße den Autos gehört, dass alle außerhalb des Autos den Verkehr stören, dass der Stärkere gewinnt, sind sie zu Fuß oder auf dem Fahrrad überfordert und unfähig, ihren Raum einzunehmen. Sie kennen nur die (großen) Straßen, auf denen Mama oder Papa sie zu ihren Freunden oder zur Schule bringen. Wege durch die Stadt mit weniger Verkehr oder ohne Autos sind ihnen unbekannt. Kinder im Elterntaxi sind nicht gewohnt, sich aus eigener Kraft fortzubewegen. Mit dem Rad zu fahren oder zu gehen, erscheint als Zumutung, zumal wenn die Außenbedingungen von Sonnenschein bei 25 Grad abweichen. Da Kinder gelernt haben, dass sie mit dem Auto zum Basketball oder Tanzen fahren, und selbst Papa das Auto nimmt, wenn er ins Fitnessstudio will, kommt Bewegung in ihrer Welt nur als geplante Aktivität auf oder in dafür bestimmten Einrichtungen wie Sportplätzen und Studios vor.
Diese Generation, die täglich im SUV von A nach B gebracht wird, hat einen autofokussierten Blick auf die Welt. Der Möglichkeitenraum bei der Wahl des Verkehrsmittels schrumpft zusammen. Wie werden diese Kinder als Erwachsene mobil sein? Werden sie überhaupt auf die Idee kommen, am Wochenende anders die Brötchen zu holen als mit dem Auto? Werden sie Bewegung in ihren Alltag einbauen können? Werden sie es ihren eigenen Kindern zutrauen, zu Fuß zur Schule zu gehen? Die gelernten Verhaltensweisen aus der Kindheit sind tief verwurzelt. Eine Generation Elterntaxi wächst heran, die wenig andere Fortbewegungsmittel kennt und daher kaum eine Wahl hat, als Erwachsene anders zu leben. Der Weg zu noch mehr und noch größeren Autos ist damit vorprogrammiert, die Chance auf die Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels gefährdet – wenn sich nichts ändert.
Sichere Infrastruktur und ein gutes Gefühl für Eltern
Kinder brauchen eine sichere Infrastruktur, um sich selbständig durch ihre Umgebung bewegen zu können – und Eltern brauchen die Gewissheit, dass Kinder dabei vor Unfällen geschützt sind. Diese Infrastruktur zu schaffen ist Aufgabe der Politik aller Ebenen, die dafür Rahmenbedingungen setzt und der Stadtverwaltungen, die kindgerechte Straßen plant. Straßen umzubauen dauert lang und erfordert viel Budget. Aber auch mit weniger teuren und kurzfristig umsetzbaren Maßnahmen lässt sich viel erreichen.
- Tempo 30: Die Einführung von Tempo 30 im gesamten Stadtgebiet senkt Unfallzahlen sofort und vermindert die Schwere der Unfälle.
- Autofreie Schulstraßen: Spätestens ab dem Grundschulalter sind alle gesunden Kinder in der Lage, den Schulweg zu Fuß oder mit dem Fahrrad zurückzulegen. (Gilt natürlich nicht, wenn die nächste Schule zu weit weg ist. Dann fährt in der Regel ein Schulbus.) Schulstraßen sollten so schnell wie möglich autofrei werden, um den Bring- und Holverkehr vor der Schule zu vermeiden.
- Parken verteuern: Noch immer haben Kommunen (außer in zwei Bundesländern) nicht die Möglichkeit, über Parkgebühren für das Anwohnerparken frei zu entscheiden. Anwohnerparken im öffentlichen Raum kostet daher in z.B. NRW etwa 30 Euro im Jahr. Die Kosten anzuheben lässt Autobesitzer einen höheren Teil der von ihnen verursachten Kosten tragen, die bisher auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, und macht Autofahren im Vergleich zu anderen Verkehrsmitteln (ein bisschen) unattraktiver.
- Weniger Parkplätze: Zugeparkte Rad- und Fußwege sind ein großes Problem für die Sicherheit im Straßenverkehr. Radeln in der Dooring-Zone und sichtbehinderndes Parken sind nur einige der Probleme, die durch zu viele Autos entstehen. Das Parkplatzangebot zu verknappen (und Falschparker zu sanktionieren!) beschränkt effektiv die Möglichkeit, mit dem Auto bis vor die Tür zu fahren (und nein, natürlich ist damit nicht gemeint, dass deine Großmutter mit Gehbehinderung deswegen 2km mit ihren Einkaufstüten laufen muss. Das Gute an weniger Autos ist auch immer, dass mehr Platz bleibt für diejenigen, die wirklich nicht darauf verzichten können).
Vorbilder für diese Entwicklungen gibt es bereits. Wer in den Niederlanden falsch parkt, wird zum Teil automatisiert erfasst und erhält Strafzettel in einer Höhe, die Andreas Scheuer in Ohnmacht fallen lassen würden. In Paris hat die Oberbürgermeisterin Anne Hidalgo nicht nur für die flächendeckende Einführung von Tempo 30 gesorgt, sondern will auch noch sukzessive die Anzahl der Parkplätze auf etwa die Hälfte verringern.
Am Kidical-Mass-Aktionswochenende am 18./19. September 2021 gehen in ganz Deutschland wieder tausende Familien auf die Straße, um eine am Menschen orientierte Verkehrspolitik inklusive sicherer Schulwege und kindgerechter Stadtplanung zu fordern. Die Kidical Mass-Aktionen sind angemeldete Demonstrationen auf einer festen Route, die Polizei sperrt die Straßen. Manche Kinder erleben dabei zum ersten Mal, wie es ist, auf einer breiten Straße ohne Angst vor Autos fahren zu können. Die nächste Bundesregierung wird die Chance haben, die Weichen dafür zu stellen.